Schon lange hatte ich einen Traum. Ich packte meine Sachen und zog für eine Zeitlang allein in die kanadische Wildnis. Mich reizte die Weite, die Ursprünglichkeit und die Wildheit dieser Landschaft. Ich sah mich auf ausgetretenen Elch- und Bärenpfaden wandern, durch Flüsse waten und abends am Feuer sitzen und zufrieden meinen selbstgefangenen Fisch braten. Abenteuer und Freiheit pur.
Auf der anderen Seite plagten mich Befürchtungen: Schaffe ich das überhaupt? Wie komme ich mit der Einsamkeit zurecht? Was mache ich, wenn ich Bären begegne oder mich verlaufe? Als ich meinem Freund Dan, der im Yukon lebt, von meinem Traum erzählte, meinte er: »Wenn du willst, kannst du mein Boot nehmen und fährst ins Moos Rack Valley.« Ich wurde nervös. Klopft da gerade mein Traum an die Tür? Dan erzählte mir, dass jetzt im Oktober die Elchbullen, die im Yukon bis zu siebenhundert Kilogramm schwer werden, von den Bergen in die Täler ziehen und mit mächtigen Kämpfen um die Gunst der Elchdamen buhlen. Das Moos Rack Valley sei ein guter Ort, um das zu beobachten. Ich war begeistert, dieses Spektakel wollte ich mir unbedingt anschauen und fotografieren. Der Gedanke an die Tour ließ alles in mir kribbeln. Das Kribbeln war für mich das Zeichen: Ich werde allein ins Tal der Elche wandern, um meinen Traum zu verwirklichen!
Wilde Geschichten
Während ich meine Ausrüstung zusammenpackte, kamen zwei Einheimische vorbei. Als sie hörten, was ich vorhatte, erzählten sie mir die wildesten Abenteuergeschichten. In einer Geschichte wurde ein Mann, der im dichten Busch unterwegs war, von einem brunftigen Elchbullen attackiert. Der Bulle musste ihn wohl durch sein Rascheln und Knacken im Unterholz für einen Rivalen gehalten haben. In einer anderen Geschichte imitierte ein Freund vom Lager aus einen brunftigen Bullen. Den ganzen Nachmittag passierte nichts. Tief in der Nacht, als er schon im Zelt lag, hörte er draußen Äste knacken. Der Elchbulle war erst ganz vorsichtig, wurde aber immer wilder. Rufend und schnaubend suchte er den vermeintlichen Rivalen und schlug mit seinem Geweih mächtig herausfordernd gegen Büsche und Bäume. Lachend meinte er, sein Freund hätte die ganze Nacht kein Auge zugetan und nur gebetet. Er betete, dass der Elch nicht in sein Zelt kam oder, noch schlimmer, sein Zelt in Kampfeslust angriff. Eine Bärengeschichte durfte natürlich auch nicht fehlen. Grinsend meinten beide: »Es kann schon mal passieren, dass du vor einem aufdringlichen Bären auf einen Baum flüchten musst. Wenn du Pech hast, sitzt du die ganze Nacht dort oben, weil der Bär unten herumschnüffelt.« Solche Geschichten vor dem Aufbruch in ein Abenteuer zu hören, ist natürlich nicht gerade aufbauend. Als sie gingen, wünschten sie mir viel Spaß und meinten, ich solle bloß mein Gewehr mitnehmen und gesund wiederkommen.
Auf zum Striker Pass und Moosrack Valley
Mein Traum wurde wahr. Mit Dans kleinem Motorboot fuhr ich durch ein großes Seengebiet und legte am Fuß eines Berges an. Ich nahm meinen schweren Rucksack und wanderte auf schmalen Tierpfaden hoch in die Berge. Auf den Pfaden lagen überall verstreut die kleinen Kotpillen von Dallschafen und Schneeziegen. Anscheinend kamen sie regelmäßig von den Bergen herunter ins Tal, um zu trinken. Weidenblätter, die bis in eine unglaubliche Höhe von zweieinhalb Metern frisch abgefressen waren, verrieten mir, dass hier vor kurzem Elche unterwegs waren. Sehr beeindruckend waren die mächtigen Kratzspuren von Grizzlys und Schwarzbären, die ich an Pappeln fand. Sie schärfen ihre Krallen und markieren gleichzeitig damit ihr Territorium. Oben auf dem Berg war die Aussicht fantastisch. Der Indian Summer war auf seinem Höhepunkt. Pappeln, Weiden, Zwergbirken und Beerensträucher, alle trugen ihr goldenes und rot flammendes Herbstkleid, während auf den gegenüberliegenden Gipfeln schon der erste Neuschnee lag. Es war traumhaft schön.
Die Elche zeigen sich
Oberhalb der Baumgrenze sah ich dann meinen ersten Elch. Nachdem ich einige Male die kurzen Brunftrufe eines Bullen imitiert hatte, tauchte am gegenüberliegenden Hang eine Elchkuh mit ihrem Kalb auf. Sie schaute kurz und lief dann direkt auf mich zu. Mein Herz klopfte bis zum Hals, und ich drückte mich an einen kleinen Busch, in der Hoffnung, dass sie mich nicht entdeckte. Elchkühe, die sich erschrecken oder deren Kälbern man zu nahe kommt, können schon einmal angreifen. Dann fiel mir der Satz meines Freundes wieder ein: »Du musst aufpassen; wo eine Kuh ist, ist um diese Zeit auch ein Bulle.« Ich schaute mich um, und da war er auch schon. Etwa fünfzehn Meter hinter mir tauchte zwischen den Sträuchern ein großer Jungbulle auf. Jetzt war ich mitten drin: Vor mir die Kuh mit Kalb und hinter mir ein brunftiger Elchbulle. Mit demonstrativ langsamen Schritten und schaukelndem Geweih lief er auf die Kuh zu. Mit seinen tiefen kräftigen Rufen machte er dem fremden Bullen – nämlich mir, da ich ja die Brunftrufe imitiert hatte – ganz unmissverständlich klar: Das ist meine Elchdame, halte dich hier bloß raus. Was für eine Spannung lag da in der Luft. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Zum Glück hatte der Elchbulle nur Augen für die Elchdame und verschwand mit ihr in Richtung Tal.
Weißes Schaf und Schwarzer Bär
Nachdem ich mehrere Tage lang keine weiteren Elche mehr sah, wurde ich unzufrieden. Das große Brunftspektakel, das ich mir vorgestellt hatte, blieb aus. Ich hörte zwar tagsüber wie auch nachts einige Elchbullen, aber es zeigte sich kein einziger mehr. An meinem letzten Abend grübelte ich am Lagerfeuer über meine Unzufriedenheit nach. Mein Gefühl wurde immer greifbarer. Dann platzte es aus mir heraus. Ich bat die unsichtbaren Kräfte: »Bitte schickt mir eine weitere kraftvolle Tierbegegnung!« Als der Satz aus mir heraus war, erschrak ich. Die Bitte war zu ungenau, ich hatte alle Tiere eingeladen, selbst Bären. In der Nacht schlief ich sehr unruhig. Bei jedem Knacken wurde ich wach, aus Angst Meister Petz würde um mein Zelt schleichen.
Am nächsten Morgen brach ich auf und machte mich auf den Rückweg. Dann sah ich sie: drei anmutige weiße Schneeziegen mit gamsartigen schwarzen Krucken, die am Rand einer Klippe standen. Sofort fiel mir meine Bitte ein, und ich war heilfroh, dass sich Schneeziegen zeigten und nicht ein Bär. Ich legte meinen Rucksack ab, nahm meinen Fotoapparat und ging vorsichtig auf die Ziegen zu. Es war eine Mutterziege mit Kitz und ihrem Jährling, dem Jungtier vom Vorjahr. Nach einiger Zeit gewöhnten sie sich an meine Anwesenheit und ließen mich bis auf etwa fünfzehn Meter herankommen.
Ich war glücklich und zufrieden und machte großartige Aufnahmen. Die Ziegen legten sich auf den Boden und dösten entspannt in der warmen Sonne. Da ich sie schon einige Zeit beobachtet hatte, überlegte ich, ob ich mir auch ein kleines Nickerchen gönnen sollte. Da meldete sich prompt meine innere Stimme: »Bleib wach!«
Diese Stimme kenne ich, sie meldet sich meist, wenn ich Hilfe brauche. Ich schaute mich um, sah und hörte aber nichts, selbst die Schneeziegen waren entspannt. Dennoch blieb ich wach, und das war mein großes Glück! Ein paar Minuten später wurden die Schneeziegen nervös. Sie stellten ihre Rückenhaare auf und schauten zu mir herüber. Sie waren eindeutig beunruhigt, aber warum? Ich schaute mich nochmals um und suchte sogar den Himmel nach jagenden Steinadlern ab, konnte aber nichts entdecken. Von Minute zu Minute wurden die Ziegen nervöser. Sie standen auf, schlugen mit ihren Hufen hart auf den Fels, und ihr Fell stand ab, als stünden sie unter Strom. Das war keine Unruhe mehr, sie hatten regelrecht Angst! Dabei starrten sie permanent zu mir herüber. Da ich davon überzeugt war, dass ich nicht der Auslöser ihrer Angst war, hörte ich mich innerlich trotzig sagen: »Hey Leute, ich bin es nicht! Ich habe mich nicht bewegt und keinen Krach gemacht, warum schaut ihr mich so an?«
Bärenalarm
Da hörte ich meine innere Stimme antworten: »Wenn du es nicht bist, wer ist es dann? Dreh dich mal um!« Es durchzuckte mich, und ich bekam eine Gänsehaut. Warum war ich nicht früher darauf gekommen, die Gefahr muss hinter mir sein! Ich drehte mich um. Keine drei Meter hinter mir duckte sich im tiefen Schleichschritt ein dicker Schwarzbär. Er fixierte mich mit leicht zugekniffenen rotbraunen Augen und sabberte dabei aus dem Maul. Seine Körperhaltung war wie die einer Katze, die sich an einen Vogel anschleicht und kurz vor dem Sprung ist. Dann ging alles ganz schnell. Mein Gehirn war wie zäher Honig, aber mein Instinkt, mein Reflex war schneller. Ich richtete meinen Oberkörper auf, schaute ihm in die Augen und rief mit klarer und eindringlicher Stimme: »Mach dich bloß ab!« Da wurden seine kleinen rotbraunen Bärenaugen ganz groß. Erschrocken fuhr er aus seinem Schleichgang hoch, drehte sich blitzartig um und sprang in paar Sätzen den Hang hoch. Oben blieb er kurz stehen und schaute zurück. Mit weiteren schnellen Sprüngen verschwand er dann im Busch. Vermutlich hatte der Bär gemeint, da ich mich kaum bewegte, ich wäre eine leichte Beute. Aber weit gefehlt, ich war voller Leben. Nachdem der Bär verschwunden war, schaute ich zu meiner »Alarmanlage«, den Schneeziegen. Die Schneeziegen waren zwar immer noch aufgeplustert, schlugen aber nicht mehr mit den Hufen. Und jetzt schauten sie in die Richtung, wohin der Bär verschwunden war und nicht mehr zu mir. Sie hatten also schon die ganze Zeit den Bären gesehen. Aufgewühlt von dem Erlebnis wanderte ich zurück ins Tal zu meinem Boot. Auf dem Weg stellte ich mir immer wieder alle Einzelheiten der Situation vor und sang voller Stolz meinen magischen Satz »Mach dich bloß ab!« Ich war dankbar, dass ich lebte, dankbar, dass ich das kraftvolle Werkzeug der Vogel- und Tiersprache beherrschte und dadurch die Körpersprache der Ziegen deuten konnte. Und ich sagte mir, dass ich in Zukunft genauer auf meine inneren Worte achten werde.